Schülerlabor Geisteswissenschaften

Wahrheit oder Betrug – Was nützt dem Volk?

Großes Glück hatte eine Gruppe aus dem 11. Jahrgang, Anfang Juli am Schülerlabor Geisteswissenschaften teilnehmen zu dürfen. Das Schülerlabor wurde vor bald zwanzig Jahren an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften gegründet und bietet seither regelmäßig Workshops an, in denen Schülerinnen und Schüler der Oberstufe sich die Welt der Geisteswissenschaften praktisch erschließen können.

Wir beschäftigten uns gemeinsam mit einer Gruppe des Ulrich-von-Hutten-Gymnasiums (Lichtenrade) mit der Frage, „Nützt es dem Volk, betrogen zu werden?“ Das ist nicht etwa eine Frage der Gegenwart, die als Reaktion auf Fake News formuliert wurde. Die Frage ist vielmehr fast 250 Jahre alt.

1780 veröffentlichte die Königliche Academie der Wissenschaften die Frage als Preisaufgabe. Schon die Entscheidung für die Preisfrage war ein Politikum. Friedrich II. als Freund der Aufklärung, unter dessen Regentschaft Preußen als Paradies der Toleranz galt, hatte sich nämlich eingemischt in die Gestaltung des Wettbewerbs – sehr zum Missfallen der Akademie-Gelehrten. Friedrich schien die ursprüngliche Formulierung der Frage allzu kompliziert. Die endgültige Formulierung dagegen war klar, verständlich, an ein breiteres Publikum gerichtet, das auch Nicht-Gelehrte einschloss.

Die eingereichten Texte dokumentieren die für die Zeit ungewöhnlich breitgefächerte Beteiligung. Insgesamt 42 Aufsätze in drei Sprachen – Französisch, Latein und Deutsch – gehören zum umfangreichen Quellenkorpus im Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Das wären heute mehr als tausend Druckseiten.

Wir beschäftigten uns im Schülerlabor mit Auszügen aus den Originalschriften. Keine Druckseiten, sondern Handschriften mussten entziffert werden. Damit fing die geisteswissenschaftliche Forschungspraxis und die Herausforderung an. Unsere Wissenschaftlerinnen – Dr. Yvonne Pauly von der Akademie und PD Dr. Vanessa de Senarclens (Humboldt-Universität), beide Literaturwissenschaftlerinnen – ebneten uns den Weg.

Am Anfang stand die Mustererkennung. Welche Informationen kann man einer Textseite entnehmen, selbst wenn man die Sprache nicht versteht und die Schrift nicht lesen kann? Überraschend viele. Die gestalterischen Merkmale lassen die Struktur der Seite erkennen: die Fragestellung, ein Zitat, Fußnoten, Angaben zur archivalischen Erfassung, Hinweise auf die zeitgenössischen Gutachter. Unterschiedliche Schrifttypen verweisen auf die verschiedenen Sprachen; Deutsch wurde in Kurrent geschrieben, für die romanischen Sprachen nutzte man Antiqua. Für die genauere inhaltliche Beschäftigung hielten unsere Wissenschaftlerinnen Transkriptionshilfen bereit, damit wir die Texte überhaupt entziffern konnten.

Bei der inhaltlichen Betrachtung zeigte sich: Schon auf der Titelseite der Aufsätze erschließt sich jeweils die Position des Autors. Wenn ein Autor den Dichter Wieland (1733-1813) zitiert – „Ein Wahn, der mich beglückt, ist eine Wahrheit werth, die mich zu Boden drückt.“ – erkennt man, dass dieser Autor vermutlich gegen den Betrug und für die auch unangenehme Wahrheit argumentieren wird. In den Zitaten begegneten uns nicht nur die Geistesgrößen der Frühen Neuzeit, wir lernten auch, dass diese sogenannten „Devisen“ (= Motti) der Anonymität der Autoren dienten: Der Name des Wettbewerbsteilnehmers und die Devise wurden zunächst in einem versiegelten Briefumschlag verwahrt. Auch das war sehr modern am Preisausschreiben – das Wort sollte zählen, nicht der Name dahinter die Gutachter beeinflussen.

Natürlich wollten wir am Ende aber wissen, wer 1780 den Wettbewerb gewonnen hat. Sofiia durfte den versiegelten Umschlag öffnen und das Geheimnis lüften. Die Gutachter würdigten zwei Preisträger. Der Pädagoge Rudolf Z. Becker hatte in seinem Text für die Wahrheit plädiert, der Mathematiker Frederic de Castillon hingegen für den Betrug.

Auch in unserem Kreis hatte sich gleich zu Beginn des Workshops ein größeres Meinungsspektrum gezeigt. Das Fazit lautet also: Die Antwort auf die Preisfrage muss jeder für sich selbst finden und sich auf der Suche nach der Wahrheit seines eigenen Verstandes bedienen – ganz im Sinne des bedeutendsten Philosophen der deutschen Aufklärung, Immanuel Kant: Sapere aude – Habe Mut!

Dr. Brigitte Kassel, FB Gesellschaftswissenschaften

 

 

Aus dem Text von Rudolf Z. Becker, Pädagoge und Erzieher von Caroline von Humboldt.